Besinnung "Was ist ein Mensch imstande zu ertragen?"

27.01.2021 CJD Droyßig « zur Übersicht

Die heutige Besinnung entstammt einer Zusammenarbeit von Frau Fleischer und Herrn Dr. Graziotto. Frau Fleischer hat sich mit Menschen beschäftigt, die Auschwitz überlebten (Teil 1), Herr Dr. Graziotto mit Etty Hillesum, die in Auschwitz ihr Leben verlor.

Teil 1:

Was ist ein Mensch imstande zu ertragen?

Manchmal können wir es nur schwer ertragen, wenn im Supermarkt unser Lieblingsjoghurt ausverkauft ist, oder wenn das Auto vor uns zu langsam fährt. Wenn wir einmal genau darüber nachdenken, sind das Banalitäten, die uns unnötig Kraft rauben und Dankbarkeit vermissen lassen, für das, was man besitzt.

Es gibt Menschen, denen wurde jeglicher Besitz genommen: Haare, Wertsachen, Kleidung, Familie und schlussendlich ihre Würde. Sie wurden ihrer Menschlichkeit beraubt und ich frage mich: Welcher Mensch ist imstande, das zu ertragen?

Wir wollen heute an die Menschen denken und erinnern, die imstande waren Unbeschreibliches zu ertragen. Die nichts mehr besaßen, aber unsere Welt reicher machen, indem sie darüber sprechen. Es sind Menschen, die den Holocaust erlebt haben, Menschen, die das Konzentrationslager Auschwitz überlebt haben. Heute, am 27. Januar, dem Gedenktag an die Befreiung von Auschwitz möchte ich euch die Begegnung mit Menschen ermöglichen, denen ich in den letzten Jahren begegnet bin – literarisch, in Podcasts und auch persönlich. Überleben – war das der Sinn in der Sinnlosigkeit für diese Menschen?

Auschwitz war die totale und systematische Entmenschlichung. Schon oft bin ich auf die Worte Primo Levis gestoßen, der einst sagte: „Es ist geschehen und folglich kann es wieder geschehen: darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.“ Primo Levi war nicht imstande zu ertragen, was ihm angetan wurde. Er nahm sich 1987 das Leben, weil ihm Auschwitz 1944 das Leben genommen hatte.

Ganz anders Hédi Fried. Sie wurde 1944 nach Auschwitz deportiert. Sie überlebte. In Ihrem Buch „Fragen, die mir zum Holocaust gestellt werden“ beantwortet sie ehrlich und direkt Fragen, die uns alle beschäftigen: „Waren Sie die ganze Zeit hungrig?“, „Haben Sie nachts geträumt?“, „Gab es auch freundliche SS-Männer?“, „Was hat Ihnen geholfen zu überleben?“, „Können Sie vergeben?“ Gerade durch Frieds Erzählen im Konkreten wird das Grauen ein Stück weit greifbarer, rücken die unvorstellbaren Ereignisse näher an uns heran. Ihr zuzuhören ist ein Privileg. Sie selbst trieb viele Jahre die Frage um, warum sie überlebt hatte. Sie beantwortet sie mit den folgenden Worten: „Irgendwann wurde mir klar, dass ich überlebt hatte, damit jemand vom Holocaust erzählen konnte.“

Hédi Frieds Lehre aus dem Holocaust lautet: Gewöhne dich nie an Ungerechtigkeiten.

„Das Überleben war irgendwann für mich ein Spiel geworden, das ich gegen Hitler, die SS und die Krematorien spielte. Ich wollte gewinnen.“ Nur zehn Jahre war er alt, da hatte Thomas Burgenthal bereits zwei Ghettos, Auschwitz, einen Todesmarsch und das KZ Sachsenhausen überlebt. Nach einer wahren Odyssee ist Thomas Buergenthal heute einer der weltweit angesehensten Juristen auf dem Gebiet der Menschenrechte. In seinen Erinnerungen erzählt er mit großer Wärme und Menschlichkeit von dem Schrecken, aber auch von dem Glück das ihn als Kind Mal um Mal überleben ließ.

1943 verschleppten die Nazis die Jüdin Esther Bejarano nach Auschwitz. Sie überlebte, weil sie im Orchester mitspielte. Am 15. Dezember ist Bejarano 96 Jahre alt geworden. In einem Podcast mit Sandra Maischberger erzählt sie über ihre Zeit in Auschwitz: "Ich bekam die 41948. Namen wurden abgeschafft, wir waren nur noch Nummern." Sie wird gefragt, ob sie im Lager-Orchester mitwirken kann. Gesucht wird eine Akkordeonspielerin. Obwohl sie das Instrument gar nicht beherrscht, sagt sie zu. Es gelingt ihr, die richtigen Töne zu treffen. Das ist ihre Rettung. Bejarano erzählt auch, wie sie am Tor stehen und Musik machen mussten, wenn neue Opfer für die Gaskammern angeliefert wurden. "Als die Menschen die Musik hörten, dachten sie sicher, wo Musik spielt, kann es ja so schlimm nicht sein. Das waren die Momente, die ich kaum ertragen konnte.“

Bis heute setzt sich Esther Bejarano ein: gegen das Vergessen und für das Erinnern.

Heinz Jakob Schumann überlebte Auschwitz, Dachau und den Todesmarsch. Schumann selbst zögerte lange, über seine Erlebnisse während der NS-Zeit zu sprechen. Zum einen stellten sie für ihn nach wie vor aufwühlende Erlebnisse dar, zum anderen wollte er immer als Künstler und Musiker, nicht jedoch als ehemaliger KZ-Häftling wahrgenommen werden. Schumann betonte immer wieder: „Ich bin ein Musiker, der im KZ gesessen hat. Kein KZ-ler, der Musik macht“.

Diese Menschen ertrugen Exzesse der Entwürdigung, hausten unter katastrophalen Lebensumständen und sahen die tägliche Vernichtung. Heute sind die Überlebenden um die 95 bis 100 Jahre alt und wir bewegen uns immer näher auf eine Zeit zu, in der es keine Überlebenden mehr geben wird. Aber was geschieht dann? Der Friedensnobelpreisträger und Auschwitz-Überlebende Elie Wiesel hat diese Frage so beantwortet: „Jeder, der heute einem Zeugen zuhört, wird selbst ein Zeuge werden.“ Das Wissen um Auschwitz muss also von Generation zu Generation weitergegeben werden. Wissen heißt allerdings nicht verstehen. Denn wer sich als Zuhörer oder Leser tief in das Innere dieser Mordmaschine begibt, steht am Ende wieder vor einem Rätsel.  

Liebe Schuldgemeinde, wir möchten heute zu Menschlichkeit aufrufen. Ein Überlebender sagte im letzten Jahr im Rahmen des Gedenkens an die Befreiung des Vernichtungslagers vor 76 Jahren, Auschwitz habe vielleicht das elfte Gebot hervorgebracht: „Seid nicht gleichgültig!“ Auch nach 76 Jahren sollten wir uns unserer Vergangenheit bewusst sein und den Frieden fördern. Die Wunde, vor allem bei den Überlebenden, ist auch noch nach Jahrzehnten offen und offene Wunden tun weh. Was hat all das mit mir zu tun? Es hat mit unserer Verantwortung gegenüber anderen Menschen heute zu tun. Was können wir dagegen tun? Erziehen zur Achtung und Wahrung der Würde jedes einzelnen Menschen.

Teil 2:

„Trotz allem ist das Leben voller Schönheit und Sinn.“ (Etty Hillesum)

 

Die Begegnung mit Etty Hillesum, ein jüdischen Mädchen, das in Auschwitz umgebracht worden ist, die Begegnung mit ihrem 900 Seiten langes Tagebuch, ist die Begegnung mit einer der strahlenden Gestalten dieser schrecklichen und furchtbaren Geschichte, die eben den den Namen Auschwitz trägt.

 

In Wikipedia kann man in synthetischer Form einigen Daten Ihres Lebens nachlesen: "Etty Hillesum (geboren am 15. Januar 1914 als Esther Hillesum in Middelburg; gestorben am 30. November 1943 im KZ Auschwitz-Birkenau) war eine niederländisch-jüdische Intellektuelle. Während der deutschen Besetzung der Niederlande führte sie in den Jahren 1941 bis 1943 ein Tagebuch und hinterließ Briefe, worin sich ihre menschliche und spirituelle Entwicklung unter den Bedingungen von Krieg und Verfolgung widerspiegelt. Eine erste Auswahl aus dem Tagebuch wurde 1981 veröffentlicht und fand großes, auch internationales Interesse. Eine Gesamtausgabe ihrer Schriften erschien 1983."

 

Etty ist voll des Lebens, auch des erotischen Lebens; sie kennt das Rauf und Runter der menschlichen Seele, aber je größer die Gefahr wird, desto lebendiger wird auch die Hoffnung, die aus ihrer Gestalt ausstrahlt und die nicht einmal ein geschlossenes Konzentrationslager aufhalten kann: das Licht, das ihrem Wesen am meistens entspricht,  lässt sich nicht von einem Stacheldraht erschrecken und bändigen. 

 

Und das wachsende Bekenntnis zu Gott - in dem Tagebuch entwickelt sich peu a peu ein intimes Dialog mit Ihm -  ist kein Bekenntnis zu einem Deus ex machina, sondern Bekenntnis zu dem Herzen der Wirklichkeit, die sie bejahen will, damit ein Ja, nicht ein Nein das letzte seinsmäßige Wort der Weltgeschichte und darüber hinaus sein möge: "Ich bin bereit für alles, für jeden Ort auf dieser Erde, wohin Gott mich auch schicken mag, und ich bin bereit, in jeder Situation und bis in den Tod hinein zu bezeugen, dass das Leben schön und sinnvoll ist und dass es nicht Gottes Schuld ist, dass die Dinge so sind, wie sie jetzt sind, sondern unsere eigene.". 

 

Und die Wirklichkeit ist für sie bunt und lichtvoll, geborgen und herzlich, frei und ungehindert:  „Es gibt Augenblicke, in denen ich mich wie ein kleiner Vogel in einer großen schützenden Hand geborgen fühle. Gestern war mein Herz ein in der Falle gefangener Vogel. Jetzt ist der Vogel wieder frei und fliegt ungehindert über alles hinweg. Heute scheint die Sonne. Und jetzt packe ich mein Brot ein und mache mich auf den Weg.“

 

Sie lernt in ihrem Leben ja zu sagen, zu der aufreibenden Suche nach dem Sinn des eigenes Ichs; des „Wir“, in dem sie lebte und entsteht peu a peu eine strahlende, stets überzeugende Bejahung des eigenen Selbst, der Wirklichkeit und schliesslich Gott selbst.  

 

Als junges Mädchen hat sich auch mit sehr starken Depressionen zu kämpfen gehabt, aber sie lernt damit umzugehen und schliesslich schreibt sie: „Pessimistische Depressionen sind als schöpferische Pausen zu betrachten, in denen sich die Kräfte wieder herstellen. Wenn man sich hiervon bewusst ist, so werden die Depressionen schneller vorübergehen. Man sollte sich nich deprimiert fühlen über eine Depression.“

 

Etty hegt keinen Hass, nicht eimal gegen Deutschen: „Und wenn es auch nur einen einzigen anständigen Deutschen gäbe, noch wäre er es Wert beschützt zu werden gegen die ganze barbarische Bande ,und diesem einen anständigen Deutschen zuliebe sollte man unterlassen seinen Hass über ein ganzes Volk auszugießen“, schreibt sie in Ihrem Tagebuch. 

 

(Quelle der Zitaten auf Deutsch: beruhmte-zitate.de/autoren/etty-hillesum/)

 

hier der Link zur Audiobesinnung von Frau Fleischer:

 

cloud.cjd.de/s/dP9yWF3x5W3s2BT